Älter werden

Meist vergessen wir darauf, vor allem aber an Geburtstagen holt es uns ungebeten ein.

Mit jedem Jahr mehr verliert das Leben etwas von seiner früheren Selbstverständlichkeit. Auf ihrem Platz nistet sich Schritt für Schritt das GeWAHRwerden der eigenen Endlichkeit ein, verbunden mit leiser Traurigkeit.

Und dann begegne ich Kindern, spüre diese Selbstverständlichkeit des Lebens, als gäbe es nichts anders, auch keine Zeit, nur ein JETZT.

Da fällt mir ein, was ich mal gelernt habe, aber nicht wirklich verstanden habe, wenn Heidegger von „Seinsvergessenheit“ sprach. Vielleicht verstehen wir unser SEIN erst im Vergehen.

Prägung

am Beispiel der Geschichte vom ESEL

Ein Herr kaufte einen kleinen Esel und gewöhnte ihn schon früh an die Härte des Lebens. Er lud ihm schwere Lasten auf, ließ ihn den ganzen Tag arbeiten und gab ihm nur das Nötigste zu fressen. Und so wurde aus dem jungen Esel bald ein richtiger Esel. Wenn sein Herr kam, ging er in die Knie, neigte tief sein Haupt und ließ sich willig jede schwere Last aufbürden, auch wenn er manchmal fast zusammenbrach.

Andere, die das sahen hatten Mitleid, sie sagten: „So ein armer Esel“. Und sie wollten ihm was Gutes tun. Der eine wollte ihm ein Stück Zucker geben der andere ein Stück Brot, ein dritter wollte ihn sogar in seine grüne Wiese locken. Doch er zeigte ihnen, was für ein Esel er war. Dem einen biss er in die Hand, dem anderen trat er ins Schienbein, dem dritten gegenüber war er störrisch wie ein Esel. Und da sagten sie:  „So ein Esel und ließen ihn fortan in Ruhe.

Seinem Herrn aber fraß er aus der Hand, auch wenn es leeres Stroh war. Und er lobte ihn und sagte: „Du bist der größte Esel, den ich je gesehen habe.“ Und er gab ihm den Namen —‚IA‘ .
Später war man sich über die genaue Aussprache des Namens nicht einig, bis ein Dialektiker aus Bayern meinte, sie müsse lauten IA.


Ich bin nicht mehr ganz sicher, aber ich habe diese Geschichte vor vielen Jahren von Bert HELLINGER gehört. Sie fällt mir manchmal im Zusammenhang mit „prägender“ Bindungserfahrungen ein, wenn trotz intensiver Bemühungen von Pflegeeltern und Therapeuten es einfach nicht gelingen mag, das Blatt zu wenden. Wenn wir so etwas erleben, ist sehr schmerzlich!

Wolfgang Borchert, Das Brot

Immer wieder arbeite ich mit älteren Paaren. Wahrscheinlich deshalb bin ich bei dieser Kurzgeschichte hängen geblieben, als sie Cornelius Hell in den Gedanken für den Tag am 19.5.21 vorlas. Die Geschichte handelt von einem alten Paar nach Ende des 2. Weltkriegs.

Es ist eine der schönsten Geschichten, die ich von alten Eheleuten kenne. Und obwohl sich beide kaum ins Gesicht sehen können, er ihr auch nicht gestehen kann, dass er heimlich Brot gegessen hat, gibt ihm die Frau eine Brotscheibe mehr und macht es so, dass er sein Gesicht wahren kann, sie bewahrt seine Würde. Viel leichter wäre es wohl, ihn zu bloß zu stellen.


Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte.
Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber, nachts, um halb drei in der Küche.

Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Tisachdecke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber, jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da.
Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg.

„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er und sah in der Küche umher.

„Ich habe auch was gehört“, antwortete sie, und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah, so alt wie er war: Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus.
Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt.

„Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fließen. Du erkältest dich noch.“

Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log, dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren.

„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, „ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.“

„Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts.“ Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke.

„Nein, es war wohl nichts“, echote er unsicher.

Sie kam ihm zu Hilfe: „Komm Mann, das war wohl draußen, komm zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen.“

Er sah zum Fenster hin. „Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier.“

Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen.
„Komm Mann“, sagte sie und machte das Licht aus, „das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer.“

So tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden.

„Wind ist ja“, meinte er. „Wind war schon die ganze Nacht.“ Als sie im Bett lagen, sagte sie: „Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne.“

„Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.“ Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre.

Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log.

„Es ist kalt“, sagte sie und gähnte leise, „ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.“

„Nacht“, antwortete er noch: „ja, kalt ist es schon ganz schön.“

 Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief.

Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.

 „Du kannst ruhig vier essen“, sagte sie und ging von der Lampe weg. „Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss doch eine mehr, ich vertrag es nicht so gut.“

Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.

„Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen“, sagte er auf seinen Teller.

 „Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss Mann, iss Mann.“

 Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

(aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949/2009, S.320-322)

Alltag, die gefährlichste Droge

immer wieder begegnet mir dieses Thema
heute, im fortgeschrittenen Alter öfter
das Lebensende rückt in greifbare Nähe
der Tod ein Alltagsereignis?

Das Thema begegnet mir aber auch in meiner Arbeit
gerade dort, wo Alltag etwas betäubt und vergessen lässt
was wichtig ist wie Wasser zum Leben
einzigartig, flüchtig, lästig, wunderbar, vergänglich.

Und dann sitz ich am Totenbett meiner Tante
ein paar Takte vor dem nahen Tod
und eine ganze Weile nach dem Tod
alleine mit ihr
ich habe das Gefühl, die Zeit bleibt stehen
ich habe den Alltag für eine Weile verloren.

Eigentlich habe ich Musik mitgebracht
für sie und für mich
„Für Alina“ von Arvo Pärt
ich höre und staune
spüre die Ferne des Alltags
und erliege dem Bann des Moments.


Die nachfolgende Anregung ergab sich zufällig, Gedanken zum Tag (ORF-Ö1) 27.1.2021

Cornelius Hell über „die heilige Vergänglichkeit“ menschlichen Lebens, anlässlich des 100. Geburtstages von Kurt Marti

Alltag, gefährlichste Droge, von keinem Betäubungsmittelgesetz verboten.
Diese Diagnose aus dem Essayband „Zärtlichkeit und Schmerz“ des Schweizer Schriftstellers und Theologen Kurt Marti hat mir sofort eingeleuchtet.

Was alles alltäglich werden und woran man sich gewöhnen kann!
Die Liebe und die Beziehungen zu den nächsten Menschen,
die Faszination von Literatur und Kunst, die Praxis der Religion –
alles kann in banalster Alltagsroutine versacken.

„Ich kann nicht leben ohne Ekstase“, habe ich einmal in mein Tagebuch geschrieben. Aber diese großspurige Behauptung hat mich gegen die Droge Alltag auch nicht immunisiert.

So suche ich also, was sich in den Schriften von Kurt Marti an Wegen aus der öden Alltagsroutine findet.

Wozu beten? Damit uns nichts selbstverständlich wird, schreibt er in seinem Buch „Heilige Vergänglichkeit“.

Ich verstehe: Wenn uns die Klageschreie und das hymnische Lob, die beiden Grundströme des Gebetes, verloren gehen, dann kann sich das Lebensgefühl leicht auf eine wohltemperierte Gleichförmigkeit einpendeln und der Enthusiasmus auf die kleinen Freuden und Annehmlichkeiten des Alltags zusammenschrumpfen.

Hören Sie rein
https://oe1.orf.at/player/20210126/625396


Kurt Marti
Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Radius Verlag 2010
Gedichte am Rand. Niggli, Teufen (Erstausgabe 1963) 1974,
Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand Verlag 1979

EINSAME KRANKE LEIDEN BESONDERS

Wer sich sozial ausgeschlossen fühlt, leidet stärker unter Krankheits-Symptomen.
In einem Experiment infizierten Forscher Testpersonen mit Erkältungsviren. Für Personen, die in psychologischen Tests als einsam bewertet wurden, fühlte sich die Erkrankung schlimmer an.
Andere Studien liefern Hinweise dafür, dass Einsamkeit die Anfälligkeit für diverse Leiden steigert und die Abwehrkräfte schwinden.

Von Werner Bartens
Einsamkeit hat viele Schattenseiten. Wer sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen und isoliert fühlt, bei dem leidet nicht nur die Seele, auch das körperliche Wohlbefinden wird dadurch erheblich beeinträchtigt. Sogar eine banale Erkältung fühlt sich dann schlimmer an. Zu diesem Ergebnis kommen Psychologen der Rice University im Fachmagazin Health Psychology (online). Vermutlich hat der Ausdruck, „verschnupft“ zu sein, daher seine doppelte Bedeutung.
„Es ist zwar schon länger bekannt, dass Einsamkeit die Wahrscheinlichkeit erhöht, an diversen chronischen Leiden zu erkranken und früher zu sterben“, sagt Angie LeRoy, die an der Studie beteiligt war. „Aber wir wollten wissen, wie sich dieses Gefühl auf eine vorübergehende akute Erkrankung auswirkt, die wir alle kennen und für die wir alle empfänglich sind.“ Die Forscher um den Psychologen Chris Fagundes ließen Freiwillige an einer originellen Untersuchung teilnehmen: 159 Erwachsene gaben zunächst ihre sozialen Interaktionen an. Zudem wurde in ausführlichen Evaluationen erfasst, wie einsam sie waren. Anschließend wurden sie via Nasentropfen mit Erkältungsviren infiziert und kamen fünf Tage zur Quarantäne in ein Hotelzimmer.
Nach kurzer Zeit entwickelten tatsächlich 75 Prozent aller Teilnehmer eine Erkältung. Wer vorher aufgrund der psychologischen Tests als besonders einsam eingestuft worden war, litt jedoch auffallend stärker an Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Wenige Kontakte und das Gefühl der Isolation führten dazu, dass die Symptome eines grippalen Infektes schlimmer empfunden wurden. Leichter angesteckt wurden die Einsamen hingegen nicht.
Die Zahl der Freunde bei Facebook sagt nichts über Einsamkeit aus

Das Gefühl der Einsamkeit war interessanterweise auch bei jenen Menschen vorhanden, die zwar etliche Bekannte haben, sich aber nicht wirklich aufgehoben und in die Gemeinschaft integriert wähnen. Auch die Zahl der „Freunde“ und „Follower“ in sozialen Netzwerken sagte nichts darüber aus, wie einsam sich die Menschen tatsächlich fühlten. „Wir haben auf die Qualität und nicht die Quantität der Beziehungen geachtet. Man kann sich auch in einem überfüllten Raum einsam fühlen“, sagt Angie LeRoy. „Die subjektive Wahrnehmung ist das, was zählt.“
Die Psychologen wollen den Blick dafür schärfen, dass bei Patienten immer auch die psychische Verfassung eine Rolle spielt, wenn sie krank in Praxis oder Klinik kommen. „Wir haben hier einen gezielten akuten Stressreiz, der auf eine bestimmte Verfassung, nämlich die Einsamkeit trifft“, sagt Psychologe Fagundes. Und bereits bei einer banalen Erkrankung wie zum Beispiel einer Erkältung zeigen sich erstaunliche Unterschiede.
In früheren Untersuchungen hatten Wissenschaftler gezeigt, dass einsame Menschen auch empfindlicher auf Schmerzreize reagieren. Ihre Schmerzschwelle ist durch das Gefühl der Isolation verändert, sodass die Ausgrenzung geradezu körperlich nachempfunden wird. „Ausgrenzung tut physisch weh“, sagt beispielsweise Naomi Eisenberger von der University of California in Los Angeles. Wer von anderen abgelehnt wird, bei dem werden die Nervenbahnen für Schmerzen empfänglicher; die Wissenschaftlerin spricht deshalb von „sozialen Schmerzen“.
Andere Studien liefern Hinweise dafür, dass Einsamkeit die Anfälligkeit für diverse Leiden steigert und die Abwehrkräfte schwinden. Fühlen sich Frauen in ihrer Partnerschaft nicht aufgehoben und zu wenig verstanden, erkranken sie öfter an Infekten – von der Bronchitis bis zur Blasenentzündung. Die Seele weint dann, sagen psychosomatisch orientierte Ärzte.