Geschichte B zu TAT Bild 1, 14 Jahre, männlich

„Konzentrationsschwierigkeiten“

Es war einmal ein Geigenbauer und seine Kinder. Er hatte einen Sohn und eine Tochter, die beide gut Geige spielten. Der Vater wollte berühmt werden mit seinen Kindern und so ließ er sie Tag aus Tag ein üben. Die Noten, die er ihnen zu spielen gab, wurden schwerer und schwerer. Die Kinder übten und übten, bis ihnen die Finger weh taten.

Doch der Geigenbauer nahm keine Rücksicht und drohte ihnen mit Schlägen, wenn sie aufhören würden zu üben. So saß er da der kleine Junge mit seiner Geige und seinen Noten, die viel zu schwer zu spielen waren. Er dachte nach, wie er wohl abhauen könnte. Er schnappte sich die Geige, versteckte sich hinter der Tür.
Als der Vater hereinkam, zog er ihm eines mit der Geige über den Kopf, holte seine Schwester. Die beiden hauten ab zu ihrer Mutter.

Was fällt ihnen ein dazu?

Geschichte A zu TAT Bild 1, 16 Jahre, männlich

Der Klaus hat irgend etwas angestellt und da hat sein Vater gesagt, dass er jetzt ein Lied für die Geige komponieren muss als Strafe für das, was er angestellt hat.

Der Vater möchte unbedingt, dass er ein guter Geiger wird. Für den Vater ist das nicht nur Strafe, er meint es auch gut wegen der Zukunft.

Aber der Klaus tut das gar nicht gerne und ist verzweifelt, weil ihm nichts einfällt. Er versteht auch nicht, warum ihm sein Vater immer wieder sagt, dass er spielen und komponieren soll. Aber er tut es trotzdem. Er weiß, dass er ein guter Geiger werden soll vom Vater aus, und macht das ohne Widerstand zu leisten. Diese Gedanken plagen den Klaus so, dass ihm wenig einfällt. Er weiß aber genau, dass er etwas komponieren muss, weil sonst der Vater wütend wird und dann muss er noch mehr schreiben. Und so versucht er doch, sich zusammenzureißen.

Die Geschichte geht weiter, dass er immer tut was der Vater will.


Bei diesen Geschichten stellt sich immer die Frage: Wie kommt dieser Junge zu dieser Geschichte?

Diagnosen Teil 1: Diagnosen als Etiketten

Was geschah in Grosseto?

Diese Geschichte erzählte einmal Paul Watzlawick, wobei er angab, dass sie von Selvini Palazoli stammte, die auch in Intalien gearbeitet hat. Es geht um einen Vorfall, der wirklich passiert.


Vor einigen Jahren wurde in der toskanischen Stadt Grosseto eine Frau in einem akuten schizophrenen Zustand ins örtliche Krankenhaus eingeliefert. Das Spital von Grosseto hat keine eigene psychiatrische Abteilung und da die Frau aus Neapel stammte, wurde beschlossen, sie nach Neapel zur psychiatrischen Behandlung zurückzuschicken.

Als die beiden Leute von der Ambulanz erfragen, wo die Patientin sei, sagte man ihnen, dass sie im Zimmer XY warte.
Und so gehen die beiden hinein und siehe da, da sitzt eine Dame schon voll angezogen auf dem Bett, die Handtasche liegt schon bereit und so sagen sie zu ihr: „Bitte kommen Sie mit!“

Und da wird die Frau plötzlich sehr, sehr erregt und sie beginnt sich zu wehren. Man verabreicht ihr eine Beruhigungsspritze und so wird sie hinuntergebracht in das Rettungsauto und dann geht’s los nach Neapel.

Auf der Höhe von Rom wird die Ambulanz von einem Polizeifahrzeug angehalten und nach Grosseto zurückgeschickt. Es war ein Irrtum passiert, man hatte die falsche Dame ins Rettungsauto verladen. Die Dame, die man im Rettungsauto hatte, war eine Frau, die in Grosseto wohnte und die gekommen war, um einen Verwandten zu besuchen, der an diesem Morgen eine kleine Operation im Spital mitgemacht hatte. Sie musste dort noch warten.


Das Wesentliche an diesem Vorfall ist nicht, dass nur ein bedauerlicher Irrtum passierte, der eigentlich vermieden hätte werden sollen.
Das Wesentliche an dieser Sache ist, dass eine Situation d. h. eine Wirklichkeit entstanden war, in der alles, was die Betreffende tat, also das normalste, angebrachteste, selbstverständlichste  Verhalten als weiterer Beweis ihrer Geisteskrankheit angesehen wurde.

Und das gibt zu denken, denn wir sind in unserem Leben fortwährend mit Realitäten konfrontiert, die unter Umständen dieser Art sein können. Diese Gefahr steckt vor allem in Beziehungen, in denen Macht bzw. Abhängigkeit eine gewisse Rolle spielt, also z.B. auch dort, wo jemand Verhalten oder Kommunikation anhand seiner inneren Landkarte diagnostiziert. Die „fixe“ Defintion eine bestimmten Störungsbildes interpretiert ein bestimmtes Verhalten in diesem Sinne, auch das normalste Verhalten, wie bei der Dame aus Grosseto im Sinne „Schizophrenie“.

Ein weiteres Beispiel findet sich in der nächsten Geschichte, das von Margret MEAD stammt. Lesen Sie weiter ….

Diagnosen Teil 2: Margret MEAD

Mann aus den USA – Frau aus England – und?

Die Anthropologin Margret MEAD hat in Großbritannien mehrere Tausend Frauen und Männer nach der Einschätzung ihrer Liebesbeziehungen befragt. Dabei ging es auch um die Art und Weise, welche Formen von Zärtlichkeiten nacheinander folgen.

Paul WATZLAWICK meint nun, das Ergebnis dieser Untersuchung bestätige seine These. D.h. dass das kommunikative Dritte auch hier störe, sogar in der Liebe, vor allem dann, wenn ein Liebespaar getrennt durch ein Weltmeer in verschiedenen Kulturen aufgewachsen ist, jeder sich an seiner inneren Landkarte orientiert.


Man interviewte voneinander getrennt einerseits amerikanische Soldaten und andererseits englische Mädchen. Die engl. Frauen waren der Meinung, dass amerikanischen Soldaten sehr direkt, wenig taktvoll und sexuell unfein vorgehen würden. Merkwürdigerweise sagten aber die amerik. Soldaten von den engl. Frauen dasselbe, dass sie sexuell leicht zugänglich wären.

Man begann das Phänomen näher zu untersuchen und fand heraus, dass das Paarungsverhalten in England wie auch in Nordamerika vom ersten Blickkontakt bis zum Vollzug des Sexualverkehrs ungefähr über 30 Verhaltensstufen läuft. Aber, und das ist sehr wichtig dabei, die Abfolge war recht verschieden.

Da stellte sich z.B. heraus, dass Küssen im Nordamerikanischen Paarungsverhalten eine relativ harmlose Sache ist und daher sehr früh kommt, also sagen wir bei Stufe 5. Im Englischen ist Küssen hingegen schon eine sehr erotische Sache und kommt daher erst relativ spät, z.B. bei Stufe 25.

Wenn nun also der amerikanischen Soldat auf der Basis seiner inneren soziokulturellen Landkarte glaubt, die Zeit wäre gekommen, seine Freundin zu küssen, dann fand sich das engl. Mädchen ganz urplötzlich in einer Situation, die nach ihrer Landkarte noch keineswegs in das Frühstadium der Beziehung passte.

Es bleiben ihr nun eigentlich nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder die Flucht zu ergreifen, oder aber, da zwischen Stufe 25 und 30 nur mehr 5 Stufen liegen, damit zu beginnen, sich auszuziehen.

Begann sie damit, das letztere zu tun, dann befand sich der amerikanische Soldat noch keineswegs in einer Situation, wo dieses Verhalten seiner Abfolge d.h. dem Frühstadium dieser Beziehung entsprach. Seiner Einschätzung nach war dieses Verhalten natürlich als „schamlos“ zu bezeichnen.


Nun geht es aber noch weiter. Wir denken ja alle so gerne in Pathologien und in Diagnosen.

Wenn wir uns, ohne einmal den ganzen Hintergrund miteinzubeziehen, nur das vorhin erwähnte Mädchen ansehen, so fällt es uns nicht schwer, sie vielleicht als Hysterikerin zu diagnostizieren, wenn sie davonläuft, oder als Nymphomanin, wenn sie sich an die letzten 5 Stufen macht.

WATZLAWICK: damit entstehen Beziehungspathologien, die keineswegs mehr so einfach rückführbar sind.

Diagnosen Teil 3: Chance-Risiko-Nebenwirkungen

Diagnosen als Vehikel

Beitrag in Arbeit

Erinnerungen

  • Eltern stellen ihr Kind vor, Sie sind total überfordert durch sein ständiges Ausratsen. Der Kinderarzt vermutet ein Aufmerksamkeits-Defizitit-Syndrom. Die Untersuchung bestätigt ein ADHS, die Eltern fühlen sich entlastet, das Kind hat eine Störung. Die ambulante Familienbetreuerin hingegen verortet die Unruhe und emotionale Labilität des Kindes in der Kommunikation der Eltern mit dem Kind. Noch eine Idee taucht auf, laut der Sichtweise eines Bestsellerautors handle sich um das Erscheinungsbild einen kindlich narzistischen Tyrannen (siehe u.a. Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst).
  • Der systemische Therapeut der 80-er Jahre versteht das Verhalten des Kindes natürlich alsdas eines Index-Patienten, wobei er nicht unrecht hat. Aber darauf, Recht zu haben, beruft sich gerne jeder.
  • Eltern melden sich wegen der Verhaltensschwierigkeiten des Sohnes in der Schule an, weil dieser aus Ihrer Sicht völlig unterfordert sei und deshalb störe. Die Lehrpersonen jedoch sehen das anders und vermuten eine Überforderung. Die psychodiagnostische Abklärung der Intelligenz zeigt eine leichte geistige Entwicklungsverzögerung. Die Eltern beginnen um eine Diagnose zu feilschen und wollen lieber die Diagnose: Austismus-Spektrum-Störung.
  • ….

Soweit ein kurzer Einblick in den wenig sterilen Kontext von Diagnose. Diagnose ist nie etwas wie eine mathematische Gleichung, wo auf der einen Seite ein klar umrissenes Verhalten steht und auf der anderen Seite nach dem „=“ der diagnostische Fachbegriff.

Fortsetzung folgt …

ADHS: IST EINE ZU FRÜHE EINSCHULUNG SCHULD AN DER HÄUFIGEN DIAGNOSE?

Früh eingeschulte Kinder bekommen häufiger die Diagnose ADHS und entsprechende Medikamente als ihre älteren Klassen­kameraden. Das geht aus einer neuen Studie des Versorgungsatlasses und der Ludwig-Maximilians-Universität München über das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom hervor. Von den Kindern, die erst kurz vor dem Stichtag zur Einschulung sechs Jahre alt wurden, erhielten 5,3 Prozent im Laufe der folgenden Jahre die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Bei den rund ein Jahr älteren Kindern in der Studie waren es 4,3 Prozent. Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag können somit gravierende Folgen haben.

«Unsere Studie zeigt, dass die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an gegebene Stichtage geknüpft wird, die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen kann», schreiben die Forscher. Die Frage, warum jüngere Kinder eher als impulsiv, hyperaktiv und unaufmerksam gelten, kann die Studie nicht beantworten. Die Forscher vermuten jedoch, dass das Verhalten der jüngeren und oft unreiferen Kinder mit dem ihrer älteren Klassenkameraden verglichen wird. Dadurch werde deutlich, dass das negative Verhalten bei den Jüngeren ausgeprägter sei, und dies möglicherweise als ADHS interpretiert. Die Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Diagnose steige.