Bindung und Autonomie in der Beziehung

Fragment

Quelle: Kahlil Gibran: Der Prophet

Vereint sollt ihr bleiben immerdar.
Doch lasset Raum zwischen eurem Beieinandersein.
Und lasset Wind und Himmel tanzen zwischen euch.
Liebet einander, doch macht die Liebe nicht zur Fessel:
Schaffet eher daraus ein webendes Meer zwischen den Ufern eurerSeelen.

Der Holzschnitt meines Vaters entstand auf der Basis dieses Textes.
Einerseits betont er die Unterschiedlichkeit durch die runde und die eckige Form, andererseits verbindet er beide Formen.
Gleichzeitig bedarf es eines flexiblen Raums, der es ermöglicht, dass sich beide Figuren auch bewegen können, ohne die andere Figur zu behindern.
Es geht um ein Hinbewegen und um ein Abstand finden in der für-/gegen-einander Bezogenheit.

Nähe allein ist keine ausreichende Lösung, Abstand allein auch nicht,
Wind und Himmel tanzen dazwischen, geben Raum und Zusammenhalt.

Vielleicht ist dies eine zentrale Herausforderung einer Beziehung, die auf Dauer angelegt ist, herauszufinden, wann braucht wer von uns welche Nähe oder welchen Abstand. Und es spiegelt sich wider, dass das Bedürnis nach BINDUNG das eine große Bedürfnis ist und das Bedürfnis nach AUTONOMIE das andere und nicht wenige wichtige.

Beides erfahren wir am Anfang unseres Lebens, ob es gut verläuft oder ob Vieles offen bleibt. Diese Erfahrungen bestimmen, worauf wir vertrauen können, worauf nicht, worauf wir uns verlassen können und was gefährlich werden kann.

Bindung zu einer Person, die unsere Bedürfnisse als Baby erkennt und adäquat beantwortet, lässt uns wachsen, lässt uns glauben, uns auch darauf verlassen zu können, wenn wir dessen bedürfen. Es entwickelt sich eine „sichere Basis“, die uns dann Ausschau halten lässt, was es da sonst noch Interessantes gibt in der Welt.

Damit rückt das Bedürnis nach AUTONOMIE in der Vordergrund, die sichere Basis eröffnet die Entdeckung der Welt. Und wenn uns jene Person, die für uns die „sichere Basis“ bereit gestellt hat, uns nun Schritt für Schritt entlässt in diese Freiheit, in dieses Entdecken der Welt, dieses Selbermachen, entwickeln wir Sicherheit im Umgang mit Bindung und Autonomie, ohne gegenüber der Mutter schuldig zu werden.

Machen wir keine so guten Erfahrungen, warum auch immer, entsteht in uns eine andere Vorstellung von dieser Welt und ganz zentral auch der Welt der Beziehung. Und so landen wir bei Phänomen wie der Angst von Verlust oder auch der Angst vor enger Bindung, weil wir vielleicht erfahren haben, schon einmal schwer enttäuscht worden zu sein, als wir uns auf Gedeih und Verderb einer Bindungsperson „ausgeliefert“ haben.
Erfahrungen mit Bindung und Trennung wirken meist auch im Erwachsenenalter weiter, beeinflussen nicht selten schon die Partnerwahl und haben Einfluss auf die Beziehungsgestaltung nicht nur zum Partner / zur Partnerin, sondern auch zu Kindern.

Diese Bindungserfahrungen führen zu verschiedenen Strategien, sich der gegebenen Situation anzupassen, den sogenannten Bindungsmustern. Sind die Versuche der Anpassung an die vorgegebene vielleicht auch unzureichend sichere Basis so etwas wie eine Art „Überlebensstrategie“, ist es später nicht mehr so einfach, diese aufzugeben und zu verändern. Es stellt sich immer die Frage: Wie sehr kann ich dem ersehnten Bindungsangebot vertrauen, immerhin möchte man sich eine neuerlich schmerzhafte Enttäuschung ersparen. Da tut es weniger weh, z.B. auf Distanz zu bleiben oder selbst die Beziehung zu (zer)stören, dann habe ich es wenigstens unter meiner Kontrolle.

Die eigene Angst vor dem zugefügten Verlust der Bindung zur geliebten Person erscheint deshalb so übermächtig, weil ich die Kontrolle verliere, völlig ausgeliefert bin. Und so etwas sollte mir doch nie mehr passieren. So empfand es auch schon das kleine Kind und schwor sich: Nie mehr wieder! Die als Antwort darauf entwickelte Anpassung auf eine solche Situation kann über den manchmal zu frühen und noch unfreiwilligen Weg der Autonomie gehen. Nicht mehr die zentrale Bindungsperson hilft mir, meine Ohnmacht zu (co)regulieren, nein – in der Not muss ich selber machen. Diese Autonomie entsteht aus einer Not heraus, nicht aus der „sicheren Basis“ und der daraus entwickelten Lust nach Welteroberung.
Problematische Versuche der Nähe-Distanz-Regulationen sind häufige Folge von Verletzungen, die älter sind als die Beziehung selbst, wenn der Partner / die Partnerin gebraucht wird als unterstützender Helfer, eigene Affekte zu regulieren. In der Kindheit übernimmt die zentrale Bindungsfigur, meist die Mutter, diese Funktion und hilfst dem Kind, seine Affekte zu kontrollieren. Und wenn die Mutter liebevoll da ist, gelingt dies auch.

Ich habe bereits vom Einfluss dieser früheren Erfahrungen auf die Partnerwahl geschrieben, diese sind aber meistens nicht bewusst. Und doch wird gerade oft das ersehnt, was gefehlt hat in der Kindheit, diese sichere Bindung, diese Verschmelzung mit der geliebten Person. Und Jahre später führt die gleiche alte Verletzung (oder Sehnsucht) zum unerträglichen Problem, wenn man den sicheren Halt nun erlebt als: „Du engst mich ein, da bleibt mir die Luft weg!“

So wird das, was am Anfang als (Er)Lösung aus eigener Not erschien, später zur Not von der anderen Seite, vor allem dann, wenn der Partner / die Partnerin keine Entwicklung und Veränderung gemacht hat. Dann gehen Wege oft auseinander und manchmal ist das auch der bessere Weg.

Lasset Raum zwischen Eurem Beisammensein und lasset Wind und Himmel tanzen zwischen Euch – sagt Khalil Gibran.
Er betont damit die Bedeutung des Abstands nicht als trennendes sondern verbindendes Element – gleichsam ein präventiver Ansatz, der auch der Autonomie in der Emotionsregulation einen wichtigen Stellenwert zuteilt.

Fortsetzung zu einem späteren Zeitpunkt, wenn mir meine Zeilen wieder über den Weg laufen.

Wieder heil werden

In Japan werden die Bruchstellen eines Gefäßes mit Goldstaub geflickt, diese Kunst nennt sich KINTSUGI.
So wirken die Brüche besonders kostbar, das ganze Gefäß ist nicht neu und etwas anders, hat aber die gleiche Form und es glänzt sogar ein wenig an den geklebten Stellen.

Jede wiederhergestellte Schale zeigt: Ich bin gebrochen UND ich habe Vieles überstanden.
Es hat Mühe und Zeit gekostet, wieder ganz zu werden, wieder neu gefüllt werden zu können.
Und genau das macht jedes Gefäß einzigartig.

Erzählt davon hat mir eine Frau, die ihren Partner vor einiger Zeit durch Tod unerwartet verloren hatte.

Vielleicht ist es das, was Psychotherapie versucht, wenn es darum geht, Gebrochenes im Leben wieder ganz oder heil werden zu lassen.

Regeln für die ‚richtigen‘ Erziehung

Triadisches Denken in der systemischen Arbeit

Eine Lösung bei Erziehungsproblemen kann sein, dass Eltern sich auf ein Wertesystem einigen, in dem die unterschiedlichen Werte beider Herkunftsfamilien mit aufgehoben sind. Das ist dann ein übergeordnetes System , und jeder muss seines auf gewisse Weise aufgeben. Jeder wird dann seiner Ursprungsfamilie gegenüber schuldig, das macht es so schwer. Die Vorstellung, dass das eigene richtig und das andere falsch ist, hindert eher. Wenn die Eltern sich einigen, können sie den Kindern gemeinsam gegenübertreten. Dann fühlen sich die Kinder sicherer, und sie folgen dem gemeinsam gefundenen Wertesystem gerne.

Beispiel

Ein Mann und eine Frau fragten einen Lehrer, was sie mit ihrer Tochter machen sollten, denn die Frau musste ihr jetzt öfters Grenzen setzen, und sie fühlte sich dabei vom Mann zu wenig unterstützt.

Als Erstes erklärte ihnen der Lehrer in drei Sätzen die Regeln für die richtige Erziehung:

1. In der Erziehung ihrer Kinder halten der Vater und die Mutter unterschiedlich das für richtig, was in ihrer eigenen Familie entweder wichtig war oder gefehlt hat.

2. Das Kind folgt und anerkennt als richtig, was seinen beiden Eltern entweder wichtig ist oder fehlt.

3. Wenn sich einer der Eltern gegen den anderen in der Erziehung durchsetzt, verbündet sich das Kind mit dem, der unterliegt.

Als Nächstes schlug der Lehrer ihnen vor, sie sollten sich erlauben wahrzunehmen, wo und wie ihr Kind sie liebt. Da blickten sie sich in die Augen, und ein Leuchten ging über beider Gesicht.

Als Letztes riet der Lehrer noch dem Vater, er möge seine Tochter manchmal spüren lassen, wie er sich darüber freut, wenn sie zu ihrer Mutter gut ist.*


* aus Gunthard Weber: (Hrsg.): Zweierlei Glück – Die systemische Psychotherapie Bert HELLINGERS; Carl Auer Verlag

Geschichte B zu TAT Bild 1, 14 Jahre, männlich

„Konzentrationsschwierigkeiten“

Es war einmal ein Geigenbauer und seine Kinder. Er hatte einen Sohn und eine Tochter, die beide gut Geige spielten. Der Vater wollte berühmt werden mit seinen Kindern und so ließ er sie Tag aus Tag ein üben. Die Noten, die er ihnen zu spielen gab, wurden schwerer und schwerer. Die Kinder übten und übten, bis ihnen die Finger weh taten.

Doch der Geigenbauer nahm keine Rücksicht und drohte ihnen mit Schlägen, wenn sie aufhören würden zu üben. So saß er da der kleine Junge mit seiner Geige und seinen Noten, die viel zu schwer zu spielen waren. Er dachte nach, wie er wohl abhauen könnte. Er schnappte sich die Geige, versteckte sich hinter der Tür.
Als der Vater hereinkam, zog er ihm eines mit der Geige über den Kopf, holte seine Schwester. Die beiden hauten ab zu ihrer Mutter.

Was fällt ihnen ein dazu?

Geschichte A zu TAT Bild 1, 16 Jahre, männlich

Der Klaus hat irgend etwas angestellt und da hat sein Vater gesagt, dass er jetzt ein Lied für die Geige komponieren muss als Strafe für das, was er angestellt hat.

Der Vater möchte unbedingt, dass er ein guter Geiger wird. Für den Vater ist das nicht nur Strafe, er meint es auch gut wegen der Zukunft.

Aber der Klaus tut das gar nicht gerne und ist verzweifelt, weil ihm nichts einfällt. Er versteht auch nicht, warum ihm sein Vater immer wieder sagt, dass er spielen und komponieren soll. Aber er tut es trotzdem. Er weiß, dass er ein guter Geiger werden soll vom Vater aus, und macht das ohne Widerstand zu leisten. Diese Gedanken plagen den Klaus so, dass ihm wenig einfällt. Er weiß aber genau, dass er etwas komponieren muss, weil sonst der Vater wütend wird und dann muss er noch mehr schreiben. Und so versucht er doch, sich zusammenzureißen.

Die Geschichte geht weiter, dass er immer tut was der Vater will.


Bei diesen Geschichten stellt sich immer die Frage: Wie kommt dieser Junge zu dieser Geschichte?

Einem Licht folgen

Weihnachten 2022

3 Weise, darunter auch Melchior, sind einem Stern und seinem Licht gefolgt. Ob sie gewusst haben, was sie erwartet? Aber sie waren wohl gewiss, dass da etwas ganz Besonderes wie ein neuer König sein muss. Und sie machen sich auf den Weg aus dem heutigen Persien, eine Reise gepflastert mit Gefahren und Mühsal, nehmen das Wertvollste mit, was sie haben, um es als Zeichen ihrer Ehrerbietung zu geben.

Nichtsahnend gehen sie zu Herodes, um von ihm zu erfragen, wo sie denn den neuen König finden können. Dessen Weisen berichteten davon, dass es da schon eine Prophezeiung gegeben habe von der Geburt eines besonderen Kindes in Bethlehem. Und so ganz wohl war ihm doch dann nicht und er wollte dieses Kind töten, damit es ihm nicht mehr gefährlich werden könne.

Die Weisen folgten weiter dem Stern und fanden das Jesuskind in den Armen von Maria in einem armseligen Stall. Sie warfen sich vor ihm nieder, nannten ihn König und brachten ihm ihre Geschenke dar.

Wer von uns würde es wagen, einem Stern am Himmel zu folgen, lebensbedrohliche Gefahren am Weg auf sich zu nehmen?

Und doch fordert das Leben von uns immer wieder auch, gewohnte Wege zu verlassen, uns auf Unbekanntes einzulassen. So manchen Weg kennen wir nicht, alles Wissen nützt nicht mehr. Und wir landen bei der Frage: reicht unser Mut? Jesus kam als Erlöser in die Welt und wir alle bedürfen seiner Erlösung.

Und so erinnert uns die Geburt Christi wie ein leuchtender Stern, wenn wir wieder einmal verzweifeln.

Diagnosen Teil 1: Diagnosen als Etiketten

Was geschah in Grosseto?

Diese Geschichte erzählte einmal Paul Watzlawick, wobei er angab, dass sie von Selvini Palazoli stammte, die auch in Intalien gearbeitet hat. Es geht um einen Vorfall, der wirklich passiert.


Vor einigen Jahren wurde in der toskanischen Stadt Grosseto eine Frau in einem akuten schizophrenen Zustand ins örtliche Krankenhaus eingeliefert. Das Spital von Grosseto hat keine eigene psychiatrische Abteilung und da die Frau aus Neapel stammte, wurde beschlossen, sie nach Neapel zur psychiatrischen Behandlung zurückzuschicken.

Als die beiden Leute von der Ambulanz erfragen, wo die Patientin sei, sagte man ihnen, dass sie im Zimmer XY warte.
Und so gehen die beiden hinein und siehe da, da sitzt eine Dame schon voll angezogen auf dem Bett, die Handtasche liegt schon bereit und so sagen sie zu ihr: „Bitte kommen Sie mit!“

Und da wird die Frau plötzlich sehr, sehr erregt und sie beginnt sich zu wehren. Man verabreicht ihr eine Beruhigungsspritze und so wird sie hinuntergebracht in das Rettungsauto und dann geht’s los nach Neapel.

Auf der Höhe von Rom wird die Ambulanz von einem Polizeifahrzeug angehalten und nach Grosseto zurückgeschickt. Es war ein Irrtum passiert, man hatte die falsche Dame ins Rettungsauto verladen. Die Dame, die man im Rettungsauto hatte, war eine Frau, die in Grosseto wohnte und die gekommen war, um einen Verwandten zu besuchen, der an diesem Morgen eine kleine Operation im Spital mitgemacht hatte. Sie musste dort noch warten.


Das Wesentliche an diesem Vorfall ist nicht, dass nur ein bedauerlicher Irrtum passierte, der eigentlich vermieden hätte werden sollen.
Das Wesentliche an dieser Sache ist, dass eine Situation d. h. eine Wirklichkeit entstanden war, in der alles, was die Betreffende tat, also das normalste, angebrachteste, selbstverständlichste  Verhalten als weiterer Beweis ihrer Geisteskrankheit angesehen wurde.

Und das gibt zu denken, denn wir sind in unserem Leben fortwährend mit Realitäten konfrontiert, die unter Umständen dieser Art sein können. Diese Gefahr steckt vor allem in Beziehungen, in denen Macht bzw. Abhängigkeit eine gewisse Rolle spielt, also z.B. auch dort, wo jemand Verhalten oder Kommunikation anhand seiner inneren Landkarte diagnostiziert. Die „fixe“ Defintion eine bestimmten Störungsbildes interpretiert ein bestimmtes Verhalten in diesem Sinne, auch das normalste Verhalten, wie bei der Dame aus Grosseto im Sinne „Schizophrenie“.

Ein weiteres Beispiel findet sich in der nächsten Geschichte, das von Margret MEAD stammt. Lesen Sie weiter ….

face to face

Weihnacht 2021

Holzschnitt Handdruck (Ausschnitt) Johann Henzinger

Es gibt einige unveröffentliche Holzschnitte meines Vaters, darunter auch einige zum Thema Christi Geburt, die er immer als Handdrucke fertigte. Betrachtet man diese Darstellungen, sind sie thematisch recht unterschiedlich und beleuchten verschiedene Aspekte der Geburt Christi. Immer wieder stellt er den einen oder anderen Aspekt in den Vordergrund, der mit etwas zu tun hat, das er im jeweiligen Kalenderjahr erlebt hat.


Um zu einem seelisch gesunden Menschen zu werden, bedarf es der intensiven Zugewandtheit vor allem auch in der Initialphase des Lebens, von Angesicht zu Angesicht, hier dargestellt durch das, was in Zeiten wie diesen „Face to face“ genannt wird (im Gegensatz von „Video-Telefonie“).

Dieser Holzschnitt zeigt Mutter und Kind einander eng zugewandt im Sehen und Gesehenwerden, im Hören und Gehörtwerden, im Berühren und Berührtwerden. So entsteht ein intensiver Austausch im Geben und im Nehmen. Das zu erleben, bedürfen wir vom ersten bis zum letzten Atemzug.

Von einem anderen Menschen „wahr“genommen zu werden, kann helfen, zur eigenen Seele Kontakt zu finden und damit zu Sorgen, Zweifeln, Ängsten aber auch Freuden. Und manchmal gelingt es, das Blatt zu wenden zu einem Zustand des inneren Friedens.

Diagnosen Teil 2: Margret MEAD

Mann aus den USA – Frau aus England – und?

Die Anthropologin Margret MEAD hat in Großbritannien mehrere Tausend Frauen und Männer nach der Einschätzung ihrer Liebesbeziehungen befragt. Dabei ging es auch um die Art und Weise, welche Formen von Zärtlichkeiten nacheinander folgen.

Paul WATZLAWICK meint nun, das Ergebnis dieser Untersuchung bestätige seine These. D.h. dass das kommunikative Dritte auch hier störe, sogar in der Liebe, vor allem dann, wenn ein Liebespaar getrennt durch ein Weltmeer in verschiedenen Kulturen aufgewachsen ist, jeder sich an seiner inneren Landkarte orientiert.


Man interviewte voneinander getrennt einerseits amerikanische Soldaten und andererseits englische Mädchen. Die engl. Frauen waren der Meinung, dass amerikanischen Soldaten sehr direkt, wenig taktvoll und sexuell unfein vorgehen würden. Merkwürdigerweise sagten aber die amerik. Soldaten von den engl. Frauen dasselbe, dass sie sexuell leicht zugänglich wären.

Man begann das Phänomen näher zu untersuchen und fand heraus, dass das Paarungsverhalten in England wie auch in Nordamerika vom ersten Blickkontakt bis zum Vollzug des Sexualverkehrs ungefähr über 30 Verhaltensstufen läuft. Aber, und das ist sehr wichtig dabei, die Abfolge war recht verschieden.

Da stellte sich z.B. heraus, dass Küssen im Nordamerikanischen Paarungsverhalten eine relativ harmlose Sache ist und daher sehr früh kommt, also sagen wir bei Stufe 5. Im Englischen ist Küssen hingegen schon eine sehr erotische Sache und kommt daher erst relativ spät, z.B. bei Stufe 25.

Wenn nun also der amerikanischen Soldat auf der Basis seiner inneren soziokulturellen Landkarte glaubt, die Zeit wäre gekommen, seine Freundin zu küssen, dann fand sich das engl. Mädchen ganz urplötzlich in einer Situation, die nach ihrer Landkarte noch keineswegs in das Frühstadium der Beziehung passte.

Es bleiben ihr nun eigentlich nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder die Flucht zu ergreifen, oder aber, da zwischen Stufe 25 und 30 nur mehr 5 Stufen liegen, damit zu beginnen, sich auszuziehen.

Begann sie damit, das letztere zu tun, dann befand sich der amerikanische Soldat noch keineswegs in einer Situation, wo dieses Verhalten seiner Abfolge d.h. dem Frühstadium dieser Beziehung entsprach. Seiner Einschätzung nach war dieses Verhalten natürlich als „schamlos“ zu bezeichnen.


Nun geht es aber noch weiter. Wir denken ja alle so gerne in Pathologien und in Diagnosen.

Wenn wir uns, ohne einmal den ganzen Hintergrund miteinzubeziehen, nur das vorhin erwähnte Mädchen ansehen, so fällt es uns nicht schwer, sie vielleicht als Hysterikerin zu diagnostizieren, wenn sie davonläuft, oder als Nymphomanin, wenn sie sich an die letzten 5 Stufen macht.

WATZLAWICK: damit entstehen Beziehungspathologien, die keineswegs mehr so einfach rückführbar sind.

Diagnosen Teil 3: Chance-Risiko-Nebenwirkungen

Diagnosen als Vehikel

Beitrag in Arbeit

Erinnerungen

  • Eltern stellen ihr Kind vor, Sie sind total überfordert durch sein ständiges Ausratsen. Der Kinderarzt vermutet ein Aufmerksamkeits-Defizitit-Syndrom. Die Untersuchung bestätigt ein ADHS, die Eltern fühlen sich entlastet, das Kind hat eine Störung. Die ambulante Familienbetreuerin hingegen verortet die Unruhe und emotionale Labilität des Kindes in der Kommunikation der Eltern mit dem Kind. Noch eine Idee taucht auf, laut der Sichtweise eines Bestsellerautors handle sich um das Erscheinungsbild einen kindlich narzistischen Tyrannen (siehe u.a. Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst).
  • Der systemische Therapeut der 80-er Jahre versteht das Verhalten des Kindes natürlich alsdas eines Index-Patienten, wobei er nicht unrecht hat. Aber darauf, Recht zu haben, beruft sich gerne jeder.
  • Eltern melden sich wegen der Verhaltensschwierigkeiten des Sohnes in der Schule an, weil dieser aus Ihrer Sicht völlig unterfordert sei und deshalb störe. Die Lehrpersonen jedoch sehen das anders und vermuten eine Überforderung. Die psychodiagnostische Abklärung der Intelligenz zeigt eine leichte geistige Entwicklungsverzögerung. Die Eltern beginnen um eine Diagnose zu feilschen und wollen lieber die Diagnose: Austismus-Spektrum-Störung.
  • ….

Soweit ein kurzer Einblick in den wenig sterilen Kontext von Diagnose. Diagnose ist nie etwas wie eine mathematische Gleichung, wo auf der einen Seite ein klar umrissenes Verhalten steht und auf der anderen Seite nach dem „=“ der diagnostische Fachbegriff.

Fortsetzung folgt …

Älter werden

Meist vergessen wir darauf, vor allem aber an Geburtstagen holt es uns ungebeten ein.

Mit jedem Jahr mehr verliert das Leben etwas von seiner früheren Selbstverständlichkeit. Auf ihrem Platz nistet sich Schritt für Schritt das GeWAHRwerden der eigenen Endlichkeit ein, verbunden mit leiser Traurigkeit.

Und dann begegne ich Kindern, spüre diese Selbstverständlichkeit des Lebens, als gäbe es nichts anders, auch keine Zeit, nur ein JETZT.

Da fällt mir ein, was ich mal gelernt habe, aber nicht wirklich verstanden habe, wenn Heidegger von „Seinsvergessenheit“ sprach. Vielleicht verstehen wir unser SEIN erst im Vergehen.

Prägung

am Beispiel der Geschichte vom ESEL

Ein Herr kaufte einen kleinen Esel und gewöhnte ihn schon früh an die Härte des Lebens. Er lud ihm schwere Lasten auf, ließ ihn den ganzen Tag arbeiten und gab ihm nur das Nötigste zu fressen. Und so wurde aus dem jungen Esel bald ein richtiger Esel. Wenn sein Herr kam, ging er in die Knie, neigte tief sein Haupt und ließ sich willig jede schwere Last aufbürden, auch wenn er manchmal fast zusammenbrach.

Andere, die das sahen hatten Mitleid, sie sagten: „So ein armer Esel“. Und sie wollten ihm was Gutes tun. Der eine wollte ihm ein Stück Zucker geben der andere ein Stück Brot, ein dritter wollte ihn sogar in seine grüne Wiese locken. Doch er zeigte ihnen, was für ein Esel er war. Dem einen biss er in die Hand, dem anderen trat er ins Schienbein, dem dritten gegenüber war er störrisch wie ein Esel. Und da sagten sie:  „So ein Esel und ließen ihn fortan in Ruhe.

Seinem Herrn aber fraß er aus der Hand, auch wenn es leeres Stroh war. Und er lobte ihn und sagte: „Du bist der größte Esel, den ich je gesehen habe.“ Und er gab ihm den Namen —‚IA‘ .
Später war man sich über die genaue Aussprache des Namens nicht einig, bis ein Dialektiker aus Bayern meinte, sie müsse lauten IA.


Ich bin nicht mehr ganz sicher, aber ich habe diese Geschichte vor vielen Jahren von Bert HELLINGER gehört. Sie fällt mir manchmal im Zusammenhang mit „prägender“ Bindungserfahrungen ein, wenn trotz intensiver Bemühungen von Pflegeeltern und Therapeuten es einfach nicht gelingen mag, das Blatt zu wenden. Wenn wir so etwas erleben, ist sehr schmerzlich!

Systemisch – was ist gemeint damit?

Beitrag in Arbeit

Gregory Bateson, ein Vordenker und Wegbereiter des modernen systemischen Denkens: „Ein Wald besteht nicht primär aus einzelnen Bäumen, sondern vielmehr aus der Beziehung der Bäume, Wurzeln, Pilzen, Insekten, Wärme, Licht, Wind und dem Wasserhaushalt zueinander.“

Wir Menschen leben in verschiedenen Beziehungen, Systemen. Uns verbinden oder trennen Geschichten, die wir uns erzählen, positive oder auch negative Gefühle, die wir füreinander empfinden, bewusste und unbewussten Regeln.

Die Systemische Therapie fokussiert, wenn es zu Problemen kommt, nicht sosehr auf die Geschichte der einzelnen Person, sondern bezieht die Wechselwirkungen des Menschen in seinem Beziehungsgefüge mit ein.
Systemische Therapie schaut auf den Menschen mit seinen Verhaltensmustern im Kontext, die Individuen miteinander mehr oder weniger bewusst leben und bei denen es zu Störungen kommen kann.

Wir verhalten uns immer in einem Kontext, d.h. in einem größeren Zusammenhang, meist in einem Beziehungsgefüge mit anderen, aber auch intrapsychisch in unserem inneren Beziehungsgefüge in Form von inneren Anteilen.

Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst

Was meint der griechische Philosoph Platon damit?
„Zwischen mir und mir selbst“ – damit betont er den nicht gleich offensichtlichen UNTERSCHIED. 
Kann dieses FÜR und WIDER in mir ein sinnvoller Prozess sein? Wie gesagt, „kann“ und muss nicht. Denken scheint ein leicht störbarer Vorgang zu sein, selbst die Unsicherheit belastet schon. Wir lieben Klarheiten!
Umso verführerischer ist es, nach Spiegelungen zu suchen, d.h. nach Bestätigungen seiner selbst. „Soziale“Medien sind dabei eine „hilfreiche“ Erfindung, uns eine angenehmere „Geschichte“ erzählen zu können mithilfe vieler Likes. Tut das nicht gut?

Aber gleichzeitig beschleicht mich die Angst, unbemerkt in eine Blase zu rutschen und die Spiegelungen für Wirklichkeit zu halten. Keine Angst, diese Verzerrungen tun nicht weh!

AUTONOMIE hingegen ist oft mühsam, sich zu hinterfragen, wenn wir so zufrieden sind mit uns, mit all dem Zuspruch und den vielen Likes. Nur keine Grübeleien, kein ABER, nur keine anstrengenden Komplexitäten. Und sagte nicht jemand Wichtiger: „Die wichtigsten Dinge sind meist ganz einfach“!
Autonomie fordert vor allem die Bereitschaft, sich der eigenen Unsicherheit zu stellen, sie auszuhalten anstelle von sie zu entsorgen.

UNSICHERHEIT – gar eine TUGEND?

Daran angenähert hat mich die Arbeit mit Menschen, wenn es darum ging, diese zu verstehen in ihrem Sein und Geworden-Sein. Ich habe mich dagegen gewehrt und wie oft habe ich mich getäuscht, vor allem, wenn es um Diagnosen ging. WATZLAWICK warnte oft vor diesen Etiketten, die vorgeben, eine Wirklichkeiten abzubilden, die es so meist gar nicht gibt. D.h. nicht, dass Diagnosen nicht auch wichtig sind, aber vielleicht sollte man den damit verbundenen Unsicherheiten RAUM geben.

Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ war 2008 das meistverkaufte Sachbuch, der Autor der Psychiater Michael Winterhoff, der in Folge des Erfolgs das Tyrannenthema in mehreren Büchern rauf und runter spielte, mehr als eine Mil­lio­n Exemplare wurden verkauft.

Zu tausenden pilgerten Pädagoginnen in seine Vorträge und haben ihm recht gegeben. Nun war es sonnenklar, Kinder werden zu Hauf zu Tyrannen erzogen von Eltern, die symbiotisch verstrickt sind mit ihren Kindern. Ich hab es nie verstanden.

Diese Spiegelungen – welch fataler Irrtum!
Daran ist nicht nur dieser Autor Winterhoff beteiligt, ebenso auch die Abnehmer*innen seiner einfachen „Wahrheit“, aber nicht die behandelten und geschundenen Kinder. Auch viele Talkshows boten ihm gerne Bühne, seine Formel vom Steckenbleiben im frühkindlichen Narzissmus und der Symbiose mit schwachen Eltern breit zu treten. Wer soviel Erfolg hatte, musste ja recht haben. Und der Erfolg in unserer Gesellschaft schützte ihn vor Hinterfragung seiner Annahmen und lieferte gleichzeitig Kinder in Not aus.

Und in diesem Sinne waren meine Vorbehalte Leichtgewichte im Vergleich zu dem „besten Kinderpsychiater“. Bis auf einmal, wo es gelang, ein Projekt einer Päd. Hochschule mit Winterhoff zu verhindern.

Apropo Wahrheit: Nun stellt sich in den Vorwürfen und Anklagen Betroffener gegen Winterhoff heraus, dass es keine Psychotherapie gab, sondern vor allem das Wundermittel Pipamperon, ein sedierendes Neuroleptikum, Kindern verabreicht über Jahre hinweg auf Basis des selbst erfundenen Diagnoseetiketts „Frühkindlicher Narzissmus“ und „Symbiose mit den Eltern“.
WATZLAWICK: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“.

Viele Jahre passierte nicht viel, bis die Journalistin Nicole Rosenbach mit Betroffenen und Fachleuten eine Dokumentation drehte über die verborgene Seite, über das, was man nicht sehen wollte, was aber den Unterschied macht.

Hier geht es zu ausgezeichnete WDR-Dokumentation darüber (ARD-Mediathek) 

Wir sehen wohl nur das, was wir sehen wollen, nie die Wirklichkeit.

So schließt sich der Kreis beim Titel des Beitrags: „Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst“ – hören wir hin, was der andere Teil in uns sagt. 

Wolfgang Borchert, Das Brot

Immer wieder arbeite ich mit älteren Paaren. Wahrscheinlich deshalb bin ich bei dieser Kurzgeschichte hängen geblieben, als sie Cornelius Hell in den Gedanken für den Tag am 19.5.21 vorlas. Die Geschichte handelt von einem alten Paar nach Ende des 2. Weltkriegs.

Es ist eine der schönsten Geschichten, die ich von alten Eheleuten kenne. Und obwohl sich beide kaum ins Gesicht sehen können, er ihr auch nicht gestehen kann, dass er heimlich Brot gegessen hat, gibt ihm die Frau eine Brotscheibe mehr und macht es so, dass er sein Gesicht wahren kann, sie bewahrt seine Würde. Viel leichter wäre es wohl, ihn zu bloß zu stellen.


Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte.
Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber, nachts, um halb drei in der Küche.

Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Tisachdecke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber, jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da.
Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg.

„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er und sah in der Küche umher.

„Ich habe auch was gehört“, antwortete sie, und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah, so alt wie er war: Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus.
Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt.

„Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fließen. Du erkältest dich noch.“

Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log, dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren.

„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, „ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.“

„Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts.“ Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke.

„Nein, es war wohl nichts“, echote er unsicher.

Sie kam ihm zu Hilfe: „Komm Mann, das war wohl draußen, komm zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen.“

Er sah zum Fenster hin. „Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier.“

Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen.
„Komm Mann“, sagte sie und machte das Licht aus, „das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer.“

So tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden.

„Wind ist ja“, meinte er. „Wind war schon die ganze Nacht.“ Als sie im Bett lagen, sagte sie: „Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne.“

„Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.“ Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre.

Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log.

„Es ist kalt“, sagte sie und gähnte leise, „ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.“

„Nacht“, antwortete er noch: „ja, kalt ist es schon ganz schön.“

 Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief.

Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.

 „Du kannst ruhig vier essen“, sagte sie und ging von der Lampe weg. „Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss doch eine mehr, ich vertrag es nicht so gut.“

Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.

„Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen“, sagte er auf seinen Teller.

 „Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss Mann, iss Mann.“

 Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

(aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949/2009, S.320-322)

Alltag, die gefährlichste Droge

immer wieder begegnet mir dieses Thema
heute, im fortgeschrittenen Alter öfter
das Lebensende rückt in greifbare Nähe
der Tod ein Alltagsereignis?

Das Thema begegnet mir aber auch in meiner Arbeit
gerade dort, wo Alltag etwas betäubt und vergessen lässt
was wichtig ist wie Wasser zum Leben
einzigartig, flüchtig, lästig, wunderbar, vergänglich.

Und dann sitz ich am Totenbett meiner Tante
ein paar Takte vor dem nahen Tod
und eine ganze Weile nach dem Tod
alleine mit ihr
ich habe das Gefühl, die Zeit bleibt stehen
ich habe den Alltag für eine Weile verloren.

Eigentlich habe ich Musik mitgebracht
für sie und für mich
„Für Alina“ von Arvo Pärt
ich höre und staune
spüre die Ferne des Alltags
und erliege dem Bann des Moments.


Die nachfolgende Anregung ergab sich zufällig, Gedanken zum Tag (ORF-Ö1) 27.1.2021

Cornelius Hell über „die heilige Vergänglichkeit“ menschlichen Lebens, anlässlich des 100. Geburtstages von Kurt Marti

Alltag, gefährlichste Droge, von keinem Betäubungsmittelgesetz verboten.
Diese Diagnose aus dem Essayband „Zärtlichkeit und Schmerz“ des Schweizer Schriftstellers und Theologen Kurt Marti hat mir sofort eingeleuchtet.

Was alles alltäglich werden und woran man sich gewöhnen kann!
Die Liebe und die Beziehungen zu den nächsten Menschen,
die Faszination von Literatur und Kunst, die Praxis der Religion –
alles kann in banalster Alltagsroutine versacken.

„Ich kann nicht leben ohne Ekstase“, habe ich einmal in mein Tagebuch geschrieben. Aber diese großspurige Behauptung hat mich gegen die Droge Alltag auch nicht immunisiert.

So suche ich also, was sich in den Schriften von Kurt Marti an Wegen aus der öden Alltagsroutine findet.

Wozu beten? Damit uns nichts selbstverständlich wird, schreibt er in seinem Buch „Heilige Vergänglichkeit“.

Ich verstehe: Wenn uns die Klageschreie und das hymnische Lob, die beiden Grundströme des Gebetes, verloren gehen, dann kann sich das Lebensgefühl leicht auf eine wohltemperierte Gleichförmigkeit einpendeln und der Enthusiasmus auf die kleinen Freuden und Annehmlichkeiten des Alltags zusammenschrumpfen.

Hören Sie rein
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Kurt Marti
Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Radius Verlag 2010
Gedichte am Rand. Niggli, Teufen (Erstausgabe 1963) 1974,
Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand Verlag 1979

Supervision – was ist das?

Beschreibung

Arbeit in sozialen Kontexten bedarf der Reflexion eigenen Handelns. Nutzt man dazu eine Gruppe, eröffnet man die Chance, Rückmeldung von Menschen mit anderen Sichtweisen zu erhalten. Rückmeldung fördert einen Lernprozess, kann neue Zugangswege und Einsichten öffnen. Rückmeldung kann die eigene Landkarte von der Welt in Frage stellen und zu einer Anpassung an das Gebiet führen (und nicht umgekehrt). So kann Supervision zu einer Erweiterung der Wahlmöglichkeiten eigenen Verhaltens führen.

Den nachfolgend angeführten Formen ist gemeinsam, dass der Supervisor nicht alles besser weiß oder wissen sollte. Supervision ist also keine berufsbezogene Instruktion, sondern vor allem die Reflexion eigenen Handelns mit dem Ziel einer beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung. Damit soll Supervision einerseits der Qualitätssicherung dienen, andererseits aber auch dem Erhalte seelischen Gesundheit.

  • Einzelsupervision: Hier steht die berufliche Situation im Vordergrund im Setting des Einzelgesprächs. Gesprächsinhalt bildet das persönliches Erleben und Verhalten, Werte, Erfahrungen, Gedanken und Gefühle und ganz wesentlich auch Übertragung und Gegenübertragung.
  • Fallsupervision (einzeln oder in der Gruppe): Dabei steht die Arbeit mit den KlientInnen im Fokus mit dem Ziel, diese weiter zu entwickeln. Ein weiterer Aspekt betrifft die Unterstützung und Entlastung der Betreuenden. Bei Fallsupervision in der Gruppe dient diese als eine Art Projektionsfläche, Konflikte aber auch Ressourcen können deutlich werden, mit dem Ziel, ev. neue Lösungen zu finden. Aber auch spielt Übertragung und Gegenübertragung eine wesentliche Rolle.
  • Teamsupervision: Der Fokus liegt hier beim Umgang der Mitglieder eines Teams. Teilnehmer sind die Mitarbeiter eines Arbeitsteams oder Mitarbeiter mit vergleichbaren Aufgaben. Ziel ist eine gute Zusammenarbeit durch gegenseitige Unterstützung, gemeinsames Lernen bei der Suche nach Lösungen. Dementsprechend geht es dabei um Kooperation, Kultur, Werte, Abläufe und Strukturen. Persönliche Themen werden nur soweit thematisiert, wenn sie wesentlichen Einfluss haben auf die Zusammenarbeit, ob sie ihn nun fördern oder stören. Übergeordnetes Ziel ist aber auch hier die Auftragssituation mit KlientInnen.

Persönliche Gedanken zu meinem Verständnis von Supervision

Steht in der Psychotherapie die Lebenssituation, die Lebensgeschichte und Ziele des Klienten im Vordergrund, ist es in der Gruppenarbeit die Gruppe mit ihrem Prozess. In der Gruppensupervision bildet den Mittelpunkt der vorgestellte Patient/in/Klient/in und sein/em/seiner/m Therapeut/in/Betreuer/in. Warum? Phänomene wie Übertragung und Gegenübertragung spielen in der Beziehung zwischen Klient/in und Therapeut/in/ Betreuer/in eine wesentliche Rolle.

  • Unter Übertragung (des Klienten, Patienten) versteht man die Projektion meist nicht bewusster bzw. verdrängter Gefühle, Erwartungen, Wünsche aber auch Befürchtungen aus der eigenen Entwicklungsgeschichte auf neue soziale Beziehungen und Situationen. Dies bedeutet, dass auch die Person des Helfers (Betreuers) zur Projektionsfläche für die/den Klienten wird, ohne dass ihr/ihm das so bewusst ist.
  • Doch auch die/der Helfer/in hat ihre Entwicklungsgeschichte und projeziert ihrerseits ihre Gefühle, Erwartungen aber auch Befürchtungen auf die/den Klientin/en. Dies bezeichnet man als Gegenübertragung. So entstehen mehr oder weniger komplexe Wechselwirkungen zwischen der Übertragung des Klienten und der Gegenübertragung des Helfers.

Diese aus der Tiefenpsychologie stammenden Begriffe (Freud) finden ihre Entsprechung auch im Konzept der Bindungstheorie (Bowlby), nach der wir in den ersten Lebensjahren eine innere Vorstellung von Bindung entwickeln, wie immer diese auch sein mag. Und diese innere Repräsentanz (das innere Arbeitsmodell) übertragen wir meist unreflektiert auf spätere Beziehungen, d.h. wir gehen davon aus, dass es dort auch so ist.
Deshalb geht es auch in der Supervision darum, zu lernen, diese eigenen unbewussten Prozesse wahrzunehmen anhand von Fallarbeit (Balint: Selbsterfahrung und Fallarbeit). Dies kann zu einem veränderten Verständnis der aktuellen Beziehungsdynamik und einer lösungsorientierten Korrektur führen.

Diese Arbeit bedarf der wesentlichen Rahmenbedingung des gegenseitigen Respekts und des Vertrauens, etwas, was einer geschlossenen Gruppe bedarf. Nur so kann die Gruppe zu einer Art sozialen und emotionalen Resonanzkörper werden, wenn ein/e Teilnehmer/in seinen/ihren „Fall“ vorstellt.

Der Supervisor ist aufmerksamer Begleiter der Gruppe, er ermöglicht der Gruppe den notwendigen Freiraum, in sich hineinzuhören und die eigenen Impulse in Bezug auf die Person des/der Fallvorstellers/in wahrzunehmen. Er strukturiert bei Bedarf die Gruppeneinfälle und achtet auf unbewusste Gruppenprozesse (Gruppengeschehen als Analogie zur Fallbeziehung). So kann die Gruppe als wesentliche Ressource genutzt werden, den eigenen Horizont zu erweitern, indem auch die eigene Gegenübertragung zu verstehen und nutzbar zu machen.

ADHS: IST EINE ZU FRÜHE EINSCHULUNG SCHULD AN DER HÄUFIGEN DIAGNOSE?

Früh eingeschulte Kinder bekommen häufiger die Diagnose ADHS und entsprechende Medikamente als ihre älteren Klassen­kameraden. Das geht aus einer neuen Studie des Versorgungsatlasses und der Ludwig-Maximilians-Universität München über das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom hervor. Von den Kindern, die erst kurz vor dem Stichtag zur Einschulung sechs Jahre alt wurden, erhielten 5,3 Prozent im Laufe der folgenden Jahre die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Bei den rund ein Jahr älteren Kindern in der Studie waren es 4,3 Prozent. Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag können somit gravierende Folgen haben.

«Unsere Studie zeigt, dass die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an gegebene Stichtage geknüpft wird, die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen kann», schreiben die Forscher. Die Frage, warum jüngere Kinder eher als impulsiv, hyperaktiv und unaufmerksam gelten, kann die Studie nicht beantworten. Die Forscher vermuten jedoch, dass das Verhalten der jüngeren und oft unreiferen Kinder mit dem ihrer älteren Klassenkameraden verglichen wird. Dadurch werde deutlich, dass das negative Verhalten bei den Jüngeren ausgeprägter sei, und dies möglicherweise als ADHS interpretiert. Die Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Diagnose steige.

EMPATHISCHE BERÜHRUNG LINDERT SCHMERZEN

Ob Baby oder Greis: Menschen leiden weniger stark unter Schmerz und Stress, wenn sie berührt werden.

Von Werner Bartens, Süddeutsche Zeitung. Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/studie-beruehrende-medizin-1.3556150
Pavel Goldstein kam während der Geburt seiner inzwischen vierjährigen Tochter auf die Idee. „Meine Frau hatte starke Wehen und ich dachte nur daran, wie ich ihr helfen könnte“, erinnert sich der Psychologe von der Universität Haifa. „Ich hielt ihre Hand und das schien die Beschwerden bereits zu lindern. Deshalb wollte ich später im Labor herausfinden, ob Berührung tatsächlich die Schmerzen verringern kann – und wenn ja, wie.“ Was passiert, wenn einer intuitiv die Hand des anderen ergreift, sobald der Zahnarztbohrer, fiese Spritzen oder andere brenzlige Situationen drohen?
Der Wissenschaftler aus Israel hat mit seinem Team bei jungen Paaren untersucht, was Körperkontakt bewirken kann. Im Fachblatt Scientific Reports zeigen die Forscher, dass sich physiologische Vorgänge wie Herzschlag und Atmung bereits einander annähern, wenn sich Partner im selben Raum befinden. Plötzlich auftretender Schmerz – in diesem Fall ausgelöst durch leichte Hitzereize am Unterarm – unterbricht diese Synchronisierung jedoch. Dürfen sich die Paare hingegen berühren, während der Schmerz ausgelöst wird, passen sich die Rhythmen einander an und das Leiden wird weniger stark empfunden.
Die schmerzlindernde Wirkung der Berührung lässt sich sogar noch steigern. Sie fällt umso stärker aus, je ausgeprägter die Empathie füreinander ist. „Berührung könnte das Werkzeug sein, mit dem wir Mitgefühl vermitteln“, sagt Goldstein. „Die Folgen sind mit der Einnahme von Schmerzmitteln vergleichbar.“
Berührung ist die erste Sprache. Babys spüren von Anfang an die beruhigende Wirkung und behagliche Wärme, wenn sie angefasst werden. Sie wachsen schneller, sind weniger schmerzempfindlich und besser vor Infektionen geschützt, wenn sie immer wieder liebevoll berührt werden. Doch viele Gesellschaften pflegen mit zunehmendem Alter nicht Nähe und Körperkontakt; vielmehr prägen Distanz und Abgrenzung das Miteinander. Dabei gilt auch für Erwachsene, dass Gefäße elastischer bleiben, Herzinfarkte seltener sind und die Mobilität im Alter erst später eingeschränkt ist, wenn man immer wieder liebevoll berührt wird.

Der Mensch ist ein soziales Wesen, auch wenn das im Alltag oft nicht zu spüren ist. Sehen Kinobesucher einen bewegenden Film, gleichen sich ihre Herzrhythmen und Atemzüge an, beim Singen und Tanzen geschieht das sowieso, aber auch zwei Fußgänger fallen nebeneinander in den gleichen Schritt und in Konferenzen nehmen Kollegen die gleiche Sitzhaltung ein. Umgekehrt ist Einsamkeit und Ablehnung sogar körperlich schmerzhaft. „Ausgrenzung tut physisch weh“, sagt Naomi Eisenberger von der University of California in Los Angeles. Sie spricht von „sozialen Schmerzen“, die entstehen, wenn jemand aus einer Gruppe ausgeschlossen wird und sich allein fühlt.
Paare, Freunde und Kollegen sollten deshalb die hauseigene Schmerzapotheke öfter nutzen, fordert Goldstein. Leiden lassen nach, und schon bei gelegentlichen flüchtigen Berührungen halten Beziehungen länger. Sogar ein Berg wirkt weniger steil, wenn man Händchen hält. Beim Anstieg zum Gipfel kann es nie schaden, im Gleichschritt und mit synchronem Puls voranzukommen.

Coaching – was ist das?

Coaching ist eine Beratungsform und bezeichnet strukturierte Gespräche zwischen einem Coach und einem Coachee (Klienten). Der Coach übernimmt die Rolle eines nicht die Lebenswelt des Ratsuchenden involvierten Gesprächspartners mit wohlwollender und auch kritischer Intention. Inhaltlich geht es vor allem um die Reflexion eigenen Verhaltens und Erlebens im beruflichen Kontext (Führung, Konflikte, Kommunikation) und um eine ziel- bzw. lösungsorientierte Zusammenarbeit anhand der vom Klienten gewählten Themen. Wesentliches Anliegen ist es, den Coachee durch Rückmeldung, Training und Beratung zu befähigen, selbst geeignete Schritte zu seinem Ziel zu entwickeln.

Arbeit mit Paaren

Unsere Verletzungen sind immer älter als unsere Bekanntschaft. (Wolf Büntig)

Arbeit mit Paaren ist aus meiner Sicht oft Begleitung beim Aussprechen von konfliktbeladenen Sachen. 

Es gibt Manches, über das auch Paare schwer oder gar nicht sprechen können. Und es gibt meist subjektiv gute Gründe dafür. Nicht Ausgesprochenes ist aber nicht einfach nicht existent. Vielmehr steht es zwischen beiden. Es sind keine Alltagsgeschichten, es sind tief gehende Gefühle wie z.B. verletzt zu sein.

Begleiten bedeutet hier Ermutigung, dabei zu unterstützen, die eigene Enttäuschung, Beschämung, Unsicherheit mitzuteilen. Unterstützung braucht auch der Partner, wenn es darum geht, zu erahnen, zu verstehen, zu begreifen, was der andere meint und warum es ihm schwer fällt, das auszusprechen.

Begleitung beim Aussprechen und „Annehmen“ erscheint gelungen, wenn das Unaussprechliche gut aufgehoben erscheint beim anderen, dann geschieht Integration in das, was ein Paar verbindet. 

Fortsetzung folgt

Psychodynamik und Therapie per Video?

Zur Frage: Wie geeignet ist die Videotelefonie in der therapeutischen Beziehungsgestaltung für das, was uns als Therapeut*in wichtig ist.

In einer Zeit wie dieser, in der von Gesicht zu Gesicht-Termine stark eingeschränkt sind, ist vielfach die Rede von „distance counseling“ (Sprechstunden, Beratung und Therapie per Video). Deshalb möchte ich die Frage aufwerfen, inwieweit Psychotherapie als psychodynamischer Prozess per Videosetting überhaupt möglich ist.

Gehen wir davon aus, dass in der psychotherapeutischen Arbeit (ev. auch in Abgrenzung von Beratung und Psychoeducation) der Beziehungsgestaltung eine zentrale Rolle zukommt, wie GRAWE betont, erleben wir per Video doch eine erhebliche Einschränkung – wodurch?

  • Der Klient befindet sich zuhause, für viele kein neutraler Boden und geschützter Raum.
  • Die Technik (Übertragungsqualität, Medium, etc.) steht quasi als ein kaum kontrollierbares „Dritte“ zwischen Therapeut*in und Klient*in. Watzlawik hat sich ja sehr mit dem „Dritten“ in der Kommunikation auseinendergesetzt und demonstriert, wie schnell Interaktionspartner die Steuerung darüber verlieren können (sein Beispiel: Grosseto).
  • z.B.: das Gesicht / Mimik zerfällt immer wieder in verzerrte Pixel, Sprache läuft verzögert, Sprachnuancen verschwinden, man sieht sich nicht in die Augen, sondern fokussiert auf die Kamera oder den Bildschirm, dort ist meist die Kamera. Wenn wir wesentlich damit arbeiten, dass der/die Klient*in die Bedeutung unserer Interaktion bestimmt, fehlt uns schnell viel, weil wir vielleicht halb blind mit dem Auto durch die kurvenreiche Gegend fahren (siehe Artikelbild).
  • Per Videokontakt schauen wir unserem Gegenüber nicht in die Augen und umgekehrt. Wie können wir erkennen, welche Bedeutung unser Gegenüber diesem Umstand gibt. Was signalisiert ein ständig abgewandter Blick?  Nähe und Sicherheit, Anteilnahme, Interesse, Verstehen, Begleiten in Situation emotionaler Not und Gehaltenwerden, oder Ferne und Distanz.
  • Für jemanden, der „gesehen“, „wahgenommen“ werden will in dem, wie es ihm/ihr geht, kann das ziemlich frustrierend bis katastrophal sein.
  • Noch viel schwieriger kann es werden bei bei Klient*innen mit traumatischem Erfahrungen oder wenn das Irrationale überwältigend in den Vordergrund drängt und die Regulation der eigenen Befindlichkeit entgleist.

Resume

  • Vieles von dem, was therapeutische Präsenz im Sinne von Wahrnehmen in professioneller Beratung und Therapie ausmacht, geht in der Therapie per Video wohl verloren. Der/die Therapeut*in als versorgende Bezugsperson kann vielfach nur eine „brüchige“ Beziehung anbieten, was einen psychischen Entwicklungsprozess erschwert.
  • Für den Kontext Beratungen, Sprechstunden oder Begleitung (z.B. kontinuierlicher Kontakt) kann es eventuell durchaus hilfreich sein.

Im nächsten Gedankensplitter beschäftige ich mich im Vergleich dazu mit der Telefonberatung. Soviel sei schon verraten, wenn ich mit etwas schließe, was mich selbst geprägt hat:
„Meine Stimme begleitet Sie überall hin“ (Milton Erikson)
(Diese Gedankensplitter sind auch zu finden beim Menüpunkt „Mitglieder-Info“ unter BLOG).

Und was ist mit dem Hören?

Zur Frage: Wie geeignet ist das Telefon in der therapeutischen Beziehungsgestaltung für das, was uns als Therapeut*in wichtig ist.

Der Musik-Konserven-Verweigerer und geniale Dirigent Sergiu Celibidache drückte es einmal so aus: „Was ist Ihnen lieber, ein Foto von Brigitte Bardot oder Brigitte Bardot in Natura?“ (für jene, denen dieser Name nichts mehr sagt – (Wikipedia)

  • Von Blinden weiß man, dass sie meist viel besser hören als wir. Sie steigern also ihre Empfindsamkeit, ihr Wahrnehmungsspektrum und holen aus dem, was sie hören viel mehr heraus, was wir gar nicht mehr hören. Ähnlich verhält es sich bei der gesteigerten taktilen Empfindbarkeit von Blinden.
  • Babies treten mit der Geburt in unsere Welt mit noch unausgereiftem Sehvermögen. Die Stimme der Mutter nehmen sie aber schon lange vorher im Mutterleib war. Viele Monate hindurch begleitet sie diese „Melodie“ und vermittelt Geborgenheit und Nähe. Und nach der Geburt genügt es dem Baby, die Stimme der Mutter zu hören, um sich zu beruhigen. Das Baby erkennt in der Stimme der Mutter, spürt heraus, wie es ihr geht, ob sie mit sich in gutem Kontakt ist oder außer sich. Die emotionale Regulation geschieht zuerst über die Mutter (Co-Regulation), erst später kann das Kind zunehmend eigene Emotionregulierung aufbauen. So nehme ich an, dass auch der Klang unserer Stimme (Tempo, Tonlage, Melodie , Rhythmus, Lautstärke, etc.) Einfluss hat auf das, wie uns der/die Klient*in „empfindet“. Und Klient*nnen erzählen uns ja auch: „dann habe gehört, wie sie zu mir gesagt haben …“, d.h. sie haben den Klang unserer Stimme internalisiert.
    Milton Erickson nutzte das auch in posthypnotischen Aufträgen: „Meine Stimme begleitet Sie überall hin“. (Wikipedia)

Resume

  • Vielleicht ist das HÖREN (mit geschlossenen Augen) per Telefon ein gangbarer Weg, wenn kein persönlicher Kontakt möglich ist. Wir hören/spüren was es beim Anderen macht, wir hören die Melodie, wir hören den Atem, auch wenn er stockt. Wir spüren den Widerstand, wenn wir daneben liegen oder es dem Gegenüber schwer fällt, etwas anzunehmen und es klingt anders. Und wir spüren unseren Rhythmus, den des Anderen, ob er/sie uns zu schnell ist oder wir zusammenpassen. Vielleicht spüren wir uns selbst sogar mehr, unsere Reaktionen, Gegenübertragungen. M. Erickson sprach von Pacing (und Leading).
  • Fast ist es für mich wie in der Musik: Das Konzert bietet das intensivste Erlebnis vor einer excellenten und fesselnden Audioaufnahme. Weit abgeschlagen ist die Konzert-DVD, auch in den Verkaufszahlen.

Zugabe für Musikliebhaber

  • Glenn Gould, dieser geniale Pianist als BACH-Interpret, zunehmend des Konzertierens überdrüssig, war überzeugt davon, dass Konzerte für die Musik ungeeignet seien. Er war nur mit excellenten Aufnahmen zufrieden. Und die sensationelle erste Aufnahme von BACHs Goldbergvariationen (1955) gibt es immer noch zu kaufen. 
    Da ist viel Wahres dran, meine ich.  (Wikipedia)
  • Sergiu Celibidache: Die Phänomenologie Edmund Husserls und der Zen-Buddhismus prägten Celibidache und seine Musikauffassung. Jegliches Ego des Interpreten solle aus der Musik verbannt werden. „Man will nichts, man lässt es entstehen“. Musik sei keine Konserve, die man festhalten könne, sie lebe im Augenblick der Entstehung, quasi „in statu nascendi“. So lehnte er Musikvermarktung rigoros ab, spielte nur Konzerte. Hörbeispiel: Mozarts Requiem
    Und auch ist sehr viel Wahres dran, so entgegengesetzt es ist. (Wikipedia)

EINSAME KRANKE LEIDEN BESONDERS

Wer sich sozial ausgeschlossen fühlt, leidet stärker unter Krankheits-Symptomen.
In einem Experiment infizierten Forscher Testpersonen mit Erkältungsviren. Für Personen, die in psychologischen Tests als einsam bewertet wurden, fühlte sich die Erkrankung schlimmer an.
Andere Studien liefern Hinweise dafür, dass Einsamkeit die Anfälligkeit für diverse Leiden steigert und die Abwehrkräfte schwinden.

Von Werner Bartens
Einsamkeit hat viele Schattenseiten. Wer sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen und isoliert fühlt, bei dem leidet nicht nur die Seele, auch das körperliche Wohlbefinden wird dadurch erheblich beeinträchtigt. Sogar eine banale Erkältung fühlt sich dann schlimmer an. Zu diesem Ergebnis kommen Psychologen der Rice University im Fachmagazin Health Psychology (online). Vermutlich hat der Ausdruck, „verschnupft“ zu sein, daher seine doppelte Bedeutung.
„Es ist zwar schon länger bekannt, dass Einsamkeit die Wahrscheinlichkeit erhöht, an diversen chronischen Leiden zu erkranken und früher zu sterben“, sagt Angie LeRoy, die an der Studie beteiligt war. „Aber wir wollten wissen, wie sich dieses Gefühl auf eine vorübergehende akute Erkrankung auswirkt, die wir alle kennen und für die wir alle empfänglich sind.“ Die Forscher um den Psychologen Chris Fagundes ließen Freiwillige an einer originellen Untersuchung teilnehmen: 159 Erwachsene gaben zunächst ihre sozialen Interaktionen an. Zudem wurde in ausführlichen Evaluationen erfasst, wie einsam sie waren. Anschließend wurden sie via Nasentropfen mit Erkältungsviren infiziert und kamen fünf Tage zur Quarantäne in ein Hotelzimmer.
Nach kurzer Zeit entwickelten tatsächlich 75 Prozent aller Teilnehmer eine Erkältung. Wer vorher aufgrund der psychologischen Tests als besonders einsam eingestuft worden war, litt jedoch auffallend stärker an Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Wenige Kontakte und das Gefühl der Isolation führten dazu, dass die Symptome eines grippalen Infektes schlimmer empfunden wurden. Leichter angesteckt wurden die Einsamen hingegen nicht.
Die Zahl der Freunde bei Facebook sagt nichts über Einsamkeit aus

Das Gefühl der Einsamkeit war interessanterweise auch bei jenen Menschen vorhanden, die zwar etliche Bekannte haben, sich aber nicht wirklich aufgehoben und in die Gemeinschaft integriert wähnen. Auch die Zahl der „Freunde“ und „Follower“ in sozialen Netzwerken sagte nichts darüber aus, wie einsam sich die Menschen tatsächlich fühlten. „Wir haben auf die Qualität und nicht die Quantität der Beziehungen geachtet. Man kann sich auch in einem überfüllten Raum einsam fühlen“, sagt Angie LeRoy. „Die subjektive Wahrnehmung ist das, was zählt.“
Die Psychologen wollen den Blick dafür schärfen, dass bei Patienten immer auch die psychische Verfassung eine Rolle spielt, wenn sie krank in Praxis oder Klinik kommen. „Wir haben hier einen gezielten akuten Stressreiz, der auf eine bestimmte Verfassung, nämlich die Einsamkeit trifft“, sagt Psychologe Fagundes. Und bereits bei einer banalen Erkrankung wie zum Beispiel einer Erkältung zeigen sich erstaunliche Unterschiede.
In früheren Untersuchungen hatten Wissenschaftler gezeigt, dass einsame Menschen auch empfindlicher auf Schmerzreize reagieren. Ihre Schmerzschwelle ist durch das Gefühl der Isolation verändert, sodass die Ausgrenzung geradezu körperlich nachempfunden wird. „Ausgrenzung tut physisch weh“, sagt beispielsweise Naomi Eisenberger von der University of California in Los Angeles. Wer von anderen abgelehnt wird, bei dem werden die Nervenbahnen für Schmerzen empfänglicher; die Wissenschaftlerin spricht deshalb von „sozialen Schmerzen“.
Andere Studien liefern Hinweise dafür, dass Einsamkeit die Anfälligkeit für diverse Leiden steigert und die Abwehrkräfte schwinden. Fühlen sich Frauen in ihrer Partnerschaft nicht aufgehoben und zu wenig verstanden, erkranken sie öfter an Infekten – von der Bronchitis bis zur Blasenentzündung. Die Seele weint dann, sagen psychosomatisch orientierte Ärzte.