Bindung und Autonomie in der Beziehung

Fragment

Quelle: Kahlil Gibran: Der Prophet

Vereint sollt ihr bleiben immerdar.
Doch lasset Raum zwischen eurem Beieinandersein.
Und lasset Wind und Himmel tanzen zwischen euch.
Liebet einander, doch macht die Liebe nicht zur Fessel:
Schaffet eher daraus ein webendes Meer zwischen den Ufern eurerSeelen.

Der Holzschnitt meines Vaters entstand auf der Basis dieses Textes.
Einerseits betont er die Unterschiedlichkeit durch die runde und die eckige Form, andererseits verbindet er beide Formen.
Gleichzeitig bedarf es eines flexiblen Raums, der es ermöglicht, dass sich beide Figuren auch bewegen können, ohne die andere Figur zu behindern.
Es geht um ein Hinbewegen und um ein Abstand finden in der für-/gegen-einander Bezogenheit.

Nähe allein ist keine ausreichende Lösung, Abstand allein auch nicht,
Wind und Himmel tanzen dazwischen, geben Raum und Zusammenhalt.

Vielleicht ist dies eine zentrale Herausforderung einer Beziehung, die auf Dauer angelegt ist, herauszufinden, wann braucht wer von uns welche Nähe oder welchen Abstand. Und es spiegelt sich wider, dass das Bedürnis nach BINDUNG das eine große Bedürfnis ist und das Bedürfnis nach AUTONOMIE das andere und nicht wenige wichtige.

Beides erfahren wir am Anfang unseres Lebens, ob es gut verläuft oder ob Vieles offen bleibt. Diese Erfahrungen bestimmen, worauf wir vertrauen können, worauf nicht, worauf wir uns verlassen können und was gefährlich werden kann.

Bindung zu einer Person, die unsere Bedürfnisse als Baby erkennt und adäquat beantwortet, lässt uns wachsen, lässt uns glauben, uns auch darauf verlassen zu können, wenn wir dessen bedürfen. Es entwickelt sich eine „sichere Basis“, die uns dann Ausschau halten lässt, was es da sonst noch Interessantes gibt in der Welt.

Damit rückt das Bedürnis nach AUTONOMIE in der Vordergrund, die sichere Basis eröffnet die Entdeckung der Welt. Und wenn uns jene Person, die für uns die „sichere Basis“ bereit gestellt hat, uns nun Schritt für Schritt entlässt in diese Freiheit, in dieses Entdecken der Welt, dieses Selbermachen, entwickeln wir Sicherheit im Umgang mit Bindung und Autonomie, ohne gegenüber der Mutter schuldig zu werden.

Machen wir keine so guten Erfahrungen, warum auch immer, entsteht in uns eine andere Vorstellung von dieser Welt und ganz zentral auch der Welt der Beziehung. Und so landen wir bei Phänomen wie der Angst von Verlust oder auch der Angst vor enger Bindung, weil wir vielleicht erfahren haben, schon einmal schwer enttäuscht worden zu sein, als wir uns auf Gedeih und Verderb einer Bindungsperson „ausgeliefert“ haben.
Erfahrungen mit Bindung und Trennung wirken meist auch im Erwachsenenalter weiter, beeinflussen nicht selten schon die Partnerwahl und haben Einfluss auf die Beziehungsgestaltung nicht nur zum Partner / zur Partnerin, sondern auch zu Kindern.

Diese Bindungserfahrungen führen zu verschiedenen Strategien, sich der gegebenen Situation anzupassen, den sogenannten Bindungsmustern. Sind die Versuche der Anpassung an die vorgegebene vielleicht auch unzureichend sichere Basis so etwas wie eine Art „Überlebensstrategie“, ist es später nicht mehr so einfach, diese aufzugeben und zu verändern. Es stellt sich immer die Frage: Wie sehr kann ich dem ersehnten Bindungsangebot vertrauen, immerhin möchte man sich eine neuerlich schmerzhafte Enttäuschung ersparen. Da tut es weniger weh, z.B. auf Distanz zu bleiben oder selbst die Beziehung zu (zer)stören, dann habe ich es wenigstens unter meiner Kontrolle.

Die eigene Angst vor dem zugefügten Verlust der Bindung zur geliebten Person erscheint deshalb so übermächtig, weil ich die Kontrolle verliere, völlig ausgeliefert bin. Und so etwas sollte mir doch nie mehr passieren. So empfand es auch schon das kleine Kind und schwor sich: Nie mehr wieder! Die als Antwort darauf entwickelte Anpassung auf eine solche Situation kann über den manchmal zu frühen und noch unfreiwilligen Weg der Autonomie gehen. Nicht mehr die zentrale Bindungsperson hilft mir, meine Ohnmacht zu (co)regulieren, nein – in der Not muss ich selber machen. Diese Autonomie entsteht aus einer Not heraus, nicht aus der „sicheren Basis“ und der daraus entwickelten Lust nach Welteroberung.
Problematische Versuche der Nähe-Distanz-Regulationen sind häufige Folge von Verletzungen, die älter sind als die Beziehung selbst, wenn der Partner / die Partnerin gebraucht wird als unterstützender Helfer, eigene Affekte zu regulieren. In der Kindheit übernimmt die zentrale Bindungsfigur, meist die Mutter, diese Funktion und hilfst dem Kind, seine Affekte zu kontrollieren. Und wenn die Mutter liebevoll da ist, gelingt dies auch.

Ich habe bereits vom Einfluss dieser früheren Erfahrungen auf die Partnerwahl geschrieben, diese sind aber meistens nicht bewusst. Und doch wird gerade oft das ersehnt, was gefehlt hat in der Kindheit, diese sichere Bindung, diese Verschmelzung mit der geliebten Person. Und Jahre später führt die gleiche alte Verletzung (oder Sehnsucht) zum unerträglichen Problem, wenn man den sicheren Halt nun erlebt als: „Du engst mich ein, da bleibt mir die Luft weg!“

So wird das, was am Anfang als (Er)Lösung aus eigener Not erschien, später zur Not von der anderen Seite, vor allem dann, wenn der Partner / die Partnerin keine Entwicklung und Veränderung gemacht hat. Dann gehen Wege oft auseinander und manchmal ist das auch der bessere Weg.

Lasset Raum zwischen Eurem Beisammensein und lasset Wind und Himmel tanzen zwischen Euch – sagt Khalil Gibran.
Er betont damit die Bedeutung des Abstands nicht als trennendes sondern verbindendes Element – gleichsam ein präventiver Ansatz, der auch der Autonomie in der Emotionsregulation einen wichtigen Stellenwert zuteilt.

Fortsetzung zu einem späteren Zeitpunkt, wenn mir meine Zeilen wieder über den Weg laufen.

Wolfgang Borchert, Das Brot

Immer wieder arbeite ich mit älteren Paaren. Wahrscheinlich deshalb bin ich bei dieser Kurzgeschichte hängen geblieben, als sie Cornelius Hell in den Gedanken für den Tag am 19.5.21 vorlas. Die Geschichte handelt von einem alten Paar nach Ende des 2. Weltkriegs.

Es ist eine der schönsten Geschichten, die ich von alten Eheleuten kenne. Und obwohl sich beide kaum ins Gesicht sehen können, er ihr auch nicht gestehen kann, dass er heimlich Brot gegessen hat, gibt ihm die Frau eine Brotscheibe mehr und macht es so, dass er sein Gesicht wahren kann, sie bewahrt seine Würde. Viel leichter wäre es wohl, ihn zu bloß zu stellen.


Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte.
Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber, nachts, um halb drei in der Küche.

Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Tisachdecke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber, jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da.
Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg.

„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er und sah in der Küche umher.

„Ich habe auch was gehört“, antwortete sie, und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah, so alt wie er war: Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus.
Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt.

„Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fließen. Du erkältest dich noch.“

Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log, dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren.

„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, „ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.“

„Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts.“ Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke.

„Nein, es war wohl nichts“, echote er unsicher.

Sie kam ihm zu Hilfe: „Komm Mann, das war wohl draußen, komm zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen.“

Er sah zum Fenster hin. „Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier.“

Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen.
„Komm Mann“, sagte sie und machte das Licht aus, „das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer.“

So tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden.

„Wind ist ja“, meinte er. „Wind war schon die ganze Nacht.“ Als sie im Bett lagen, sagte sie: „Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne.“

„Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.“ Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre.

Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log.

„Es ist kalt“, sagte sie und gähnte leise, „ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.“

„Nacht“, antwortete er noch: „ja, kalt ist es schon ganz schön.“

 Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief.

Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.

 „Du kannst ruhig vier essen“, sagte sie und ging von der Lampe weg. „Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss doch eine mehr, ich vertrag es nicht so gut.“

Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.

„Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen“, sagte er auf seinen Teller.

 „Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss Mann, iss Mann.“

 Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

(aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949/2009, S.320-322)

Alltag, die gefährlichste Droge

immer wieder begegnet mir dieses Thema
heute, im fortgeschrittenen Alter öfter
das Lebensende rückt in greifbare Nähe
der Tod ein Alltagsereignis?

Das Thema begegnet mir aber auch in meiner Arbeit
gerade dort, wo Alltag etwas betäubt und vergessen lässt
was wichtig ist wie Wasser zum Leben
einzigartig, flüchtig, lästig, wunderbar, vergänglich.

Und dann sitz ich am Totenbett meiner Tante
ein paar Takte vor dem nahen Tod
und eine ganze Weile nach dem Tod
alleine mit ihr
ich habe das Gefühl, die Zeit bleibt stehen
ich habe den Alltag für eine Weile verloren.

Eigentlich habe ich Musik mitgebracht
für sie und für mich
„Für Alina“ von Arvo Pärt
ich höre und staune
spüre die Ferne des Alltags
und erliege dem Bann des Moments.


Die nachfolgende Anregung ergab sich zufällig, Gedanken zum Tag (ORF-Ö1) 27.1.2021

Cornelius Hell über „die heilige Vergänglichkeit“ menschlichen Lebens, anlässlich des 100. Geburtstages von Kurt Marti

Alltag, gefährlichste Droge, von keinem Betäubungsmittelgesetz verboten.
Diese Diagnose aus dem Essayband „Zärtlichkeit und Schmerz“ des Schweizer Schriftstellers und Theologen Kurt Marti hat mir sofort eingeleuchtet.

Was alles alltäglich werden und woran man sich gewöhnen kann!
Die Liebe und die Beziehungen zu den nächsten Menschen,
die Faszination von Literatur und Kunst, die Praxis der Religion –
alles kann in banalster Alltagsroutine versacken.

„Ich kann nicht leben ohne Ekstase“, habe ich einmal in mein Tagebuch geschrieben. Aber diese großspurige Behauptung hat mich gegen die Droge Alltag auch nicht immunisiert.

So suche ich also, was sich in den Schriften von Kurt Marti an Wegen aus der öden Alltagsroutine findet.

Wozu beten? Damit uns nichts selbstverständlich wird, schreibt er in seinem Buch „Heilige Vergänglichkeit“.

Ich verstehe: Wenn uns die Klageschreie und das hymnische Lob, die beiden Grundströme des Gebetes, verloren gehen, dann kann sich das Lebensgefühl leicht auf eine wohltemperierte Gleichförmigkeit einpendeln und der Enthusiasmus auf die kleinen Freuden und Annehmlichkeiten des Alltags zusammenschrumpfen.

Hören Sie rein
https://oe1.orf.at/player/20210126/625396


Kurt Marti
Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Radius Verlag 2010
Gedichte am Rand. Niggli, Teufen (Erstausgabe 1963) 1974,
Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand Verlag 1979

Arbeit mit Paaren

Unsere Verletzungen sind immer älter als unsere Bekanntschaft. (Wolf Büntig)

Arbeit mit Paaren ist aus meiner Sicht oft Begleitung beim Aussprechen von konfliktbeladenen Sachen. 

Es gibt Manches, über das auch Paare schwer oder gar nicht sprechen können. Und es gibt meist subjektiv gute Gründe dafür. Nicht Ausgesprochenes ist aber nicht einfach nicht existent. Vielmehr steht es zwischen beiden. Es sind keine Alltagsgeschichten, es sind tief gehende Gefühle wie z.B. verletzt zu sein.

Begleiten bedeutet hier Ermutigung, dabei zu unterstützen, die eigene Enttäuschung, Beschämung, Unsicherheit mitzuteilen. Unterstützung braucht auch der Partner, wenn es darum geht, zu erahnen, zu verstehen, zu begreifen, was der andere meint und warum es ihm schwer fällt, das auszusprechen.

Begleitung beim Aussprechen und „Annehmen“ erscheint gelungen, wenn das Unaussprechliche gut aufgehoben erscheint beim anderen, dann geschieht Integration in das, was ein Paar verbindet. 

Fortsetzung folgt